René Girard / Der lange Weg von der Gewalt zur Liebe

Ein Jahr nach Fertigstellung einer Auftragsarbeit über „Jesus Christus“ schrieb mir Psychologe und Theologe Dr. Samuel Jakob aus der Schweiz eine E-Mail: „Frau Tschautscher, ich habe ihre beiden Filme „Vom Mythos der erlösenden Gewalt“ und „Jesus Christus“ gesehen, die logische Folge wäre doch jetzt eine Auseinandersetzung mit René Girard.“

René Girard kannte ich über das Buch von Prof. Wolfgang Palaver, das mir der Girard-Forscher nach einer Filmvorführung von besagtem Film „Vom Mythos der erlösenden Gewalt“ in Innsbruck einige Jahre zuvor als Geschenk mitgebracht hatte. Ich las das Buch nach Erhalt der E-Mail von Dr. Samuel wieder an. Damals war ich für diesen Denker noch nicht bereit gewesen.

Die Schriften von Dr. Jakob mit dem Buch von Prof. Palaver über Girard quer lesend, vertiefte ich mich immer mehr in Girards Hauptwerke und begriff langsam die Tragweite der intellektuellen Annäherung an Mysterien. Mich fasziniert Girards Denkvermögen enorm. Insbesondere die Leichtigkeit seines Insistierens, die Qualität der Überzeugung für seine Grundthesen, die wissenschaftliche Genauigkeit eigenes Denken zu verfeinern und damit vorangegangene Ungenauigkeiten oder Fehler schrittweise auszubessern.

Diesem Film näherte ich mich mit künstlerischen Mitteln. Natürlich agierte ich im Geiste des Gelesenen und Begriffenen: Es sind dauernd Überlagerungen von Wirklichkeiten, die in ihrer Summe eine Annäherung an die Ganzheit der „einen Wirklichkeit“ sind, die der ständig interdisziplinäre Girard auch durchgehend durchschiffte.

Girard spricht vorwiegend selbst, drei Girard-Kenner erzählen über ihn, Frau Petra-Steinmair-Pösel gibt Girards Erkenntnissen sehr gute praktische Gegenüberstellungen, der Schluss mit Ruth Jakob-Gautschi führt seine Suche weiter. Ähnlich wie auch Girard keine Notwendigkeit sah allzu dramaturgisch zu berichten, so gestaltet sich auch dieser Film. Am Anfang kommt die Literatur, die er quer durchlas und die seine Theorien bestätigten. Dann folgen biographische Daten, eine Auswahl seiner Bücher, zahlreich seine Gedanken und schließlich die großen Fragen und daraus die Erkenntnis gelegentlich oder in den letzten Tiefen unwissend zu sein.

Die Dreharbeiten brachten auch einiges Material über die Apokalypse, den Krieg, das offene Ende für die Menschheit, den „offenen Gott“ und die „offene Geschichte“. Ich brauchte fast drei Monate für die Entscheidung doch mit der Gnade zu enden und nicht mit der Offenheit, die aus Sicht von Girard auch das Ende der Menschheit bedeuten könnte, wenn sie sich dazu entscheiden würde. Ich musste mich fragen, ob es eine Einmischung in sein Denken wäre, der Gnade den Vorzug zu geben, oder meine eigene Naivität, die das Grauen, das die Menschheit verursachen kann, nicht mehr thematisieren will. „Die Gnade“ war eine der wenigen Entscheidungen, die ich durchaus im Dialog mit Girard traf, doch wo ich mir sagte: Das ist deine Entscheidung als Regisseurin und zeigt nicht seine letzten Überlegungen. Den Rest des Filmes folgte ich der dichten, geistvollen, wendigen Intellektualität sowie schüchterner aber nichtsdestotrotz überzeugten Religiosität dieses mir immer noch unvollständig gebliebenen Menschen.

Großen Dank empfinde ich seiner Frau Martha Girard gegenüber, die mir trotz ihres hohen Alters Fotos von ihrem Mann digitalisiert zur Verfügung stellte. Damit kann ich seine Kindheit und Jugend filmisch bekannt machen.

Ein weiterer Film über René Girard ist angedacht. Diesmal soll der gewaltlose Gott im Mittelpunkt stehen.

Der von Girard entdeckte Zusammenhang der Gewalt mit dem Sakralen, das oft mit dem Heiligen gleichgesetzt wird, bringt eine ambivalente Botschaft: Das ‘sakrifizielle Christentum’ das einen Gott behauptet, dessen Zorn nur durch ein Opfer besänftigt werden kann. Girard setzt ein ganz anderes, ein jesuanisches Gottesbild frei, das für fast 2000 Jahre ein Schattendasein fristete.

„Es brauchte die Aufklärung und die Psychoanalyse, bis diese Per-Version entdeckt werden konnte.“ (Girard) Nun öffnet sich eine ganz neue Ära: der Gewaltlose Gott. Das Christentum kann nun seine Restanzen eines Gewalt enthaltenen Gottesbildes aufklären und hinter sich lassen, eine jesuanisch-christliche Spiritualität, die allen Religionen gegenüber lernoffen ist, integral: der Gott bedingungsloser Liebe.“

Der jetzige Film führt in Girard’s Theorien ein, zeigt aber noch nicht die gigantische Spannweite seiner daraus folgenden interdisziplinären, verstärkt die Psychologie sowie die Mystik betreffenden Folgeforschungen und Gedanken. Verzweigt, verschlungen und mit lehrreichen Umwegen, die ich oft als höchst detailliert erlebte, führt Girard für mich seine Forschung innerhalb des erkannten gewaltlosen, Gnade gebenden Gottes weiter, vertiefte sich, freute sich auch im Alter noch kindlich über neue Erkenntnisse und gab immer auch den Raum frei für andere. Letzteres fühlt sich nach Ganzheit an, die der sehen kann, der seine narzisstischen Neigungen zu überwinden vermag.

Insgesamt genoss ich wirklich jede Minute Arbeit an diesem Film. Es war mir eine Ehre solchen Gedanken monatelang folgen zu können und sie mit drei Schauspieler*innen vom Theater und einem hervorragenden Sprecher künstlerisch zu komprimieren.