Identität

Inhalt:

 

Johanna Tschautscher beschäftigte sich zwölf Jahre lang mit Organisierter Kriminalität und realisierte in einer dreijährigen Arbeit einen Dokumentarfilm über Identität und Organisierte Kriminalität in Sizilien. Sie reiste wiederholt nach Palermo und traf unterschiedliche Menschen im Kampf gegen die Cosa Nostra. In ihrem Buch veröffentlicht sie  entstandene Interviews, Gespräche und Briefwechsel. Ihre Auseinandersetzung mit der Identität des Menschen beginnt, als sie 1986/1987 im Fernsehen hunderte Mörder bei den Maxi Prozessen von Giovanni Falcone in Palermo sieht. Sie stellt sich als junger Mensch wie die Frage, wie diese 860 Menschen zu Mördern wurden.

„Die Mafia bietet Jugendlichen eine Superidentität, die sie vom Objekt zum Subjekt erhöht. Der Drang dieser Gruppe anzugehören, lässt sie sogar zu Mördern werden.“ Roberto Scarpinato, Anti-Mafia Palermo

„Unsere Realität hier ist sehr armselig, geprägt von großer Armut. Ich spreche von den Vierteln, wo die Mafia das Nichts ersetzt und wir unser Schulprojekt zur Bewusstseinsbildung für Legalität vorangetrieben haben. Hier ist die Zukunft voll mit Ungewissheiten. Und diese Unsicherheit setzt einen Mechanismus in Gang: Du gibst mir deinen Schutz, ich gebe dir dafür mein Vertrauen. Dieses Vertrauen wird zur blinden Abhängigkeit, ohne Fragen, denn allein der Kontakt zum potenten Mann, macht mich selbst mächtig.“ Franco Di Maria , Universität Palermo


Textausschnit:

„Gerechtigkeit ist gewiss ein Synonym für Legalität, denn ohne Legalität hat man keine Gerechtigkeit. Aber es ist auch wahr, dass Legalität allein eine volle und umfassende Gerechtigkeit nicht garantieren kann. Die Überwachung der Normen allein – so nötig sie auch ist – hat nicht die Kraft die Unterschiedlichkeiten der Bürger zu überwinden. Die sogenannten „Armen“, welche Gründe sie auch immer arm gemacht haben, hören nicht auf arm zu sein, nur weil alle Gesetze überwacht sind. Man muss aus der Gerechtigkeit eine tägliche Praxis machen, die fähig ist jedem das zu geben, was ihm zusteht und es ihm möglich macht anständig zu leben. Diese Aufgabe braucht Legalität aber muss die persönliche Verantwortung von jedem von uns mit einschließen. Stillschweigen und Gleichgültigkeit sind nicht neutral: Es sind Komplizen die Legalitäten verneinen können.
Die Worte Jesu Christi, die die Aktionen Padre Puglisis ohne Unterlass angeführt haben, sind hart: Hunger und Durst nach Gerechtigkeit. Starke radikale Vorschläge die über die formale Überwachung des geschriebenen Wortes gehen. Es sind Anstiftungen und Provokationen. Padre Puglisi kannte, lebte, wusste von der Lehre des Guten Samaritas. Kein Gesetz verpflichtete den Samariter dem durch Banditen verletzten zu helfen. So steht es geschrieben und so gingen der Priester und der Levit vorbei. Stehenbleiben, sich einbringen, Hilfe suchen war hingegen die Wahl des Samariters der uns so eine außergewöhnliche Lektion erteilt, was Gerechtigkeit betrifft. Gerechtigkeit, nicht Güte: Denn der Samariter ist nicht nur gut. Er rettete das leben eines anderen und das ist allem voran richtig.
Don Pino Puglisi, Pfarrer in Brancaccio wurde von der Mafia ermordet auf Grund dieser unbequemen Präsenz, er drang in ein Territorium ein, wo die Cosa Nostra ihre „Totale Hegemonie“ realisieren wollte. Sein Sakrileg brachte die Organisierte Kriminalität in die Krise, nicht nur auf Grund seiner Güte, sondern weil er die Legalität als Gerechtigkeit gelebt und beabsichtigt hat. Gerechtigkeit die aus dem Gesetzbuch heraustritt und auf die Straße geht, um den zu suchen, der total verlassen ist, um diese „Armut“ zu seiner Sache zu machen und ihr Alternativen zu bieten.
Heute ist es schwieriger geworden, diffus rund um eine Kultur eines ernsthaften Zusammenlebens. Der, der sich irrt, oder Gefahr läuft sich zu irren, der sieht sich immer stärker in die Spirale der letzten Fehler gedrängt, während wir, „die anderen“ dazu tendieren uns rigide von diesem „Schlechten“ abzusondern, überzeugt davon (oft ohne geringste Unsicherheit im Herzen), dass wir die „Guten“ sind, so überzeugt, dass wir unsere eigene Sicherheit mit einer Legalität verteidigen, die die Grenze der Ausdrucksweise jener, die sich irren, überschreitet: die Gewalt.
Padre Puglisi hat die Legalität nicht benützt, um sich gegen die törichten Jugendlichen zu verteidigen, sondern, um sie zu suchen, ihnen Aufmerksamkeit zukommen zu lassen die in die Veränderung führen sollte. Er hat ihnen Zeit geschenkt, Raum und Hilfe, auf die beste Art und Weise, die ihm als Bürger und Christ zugänglich war.
Das Gesetzbuch auf die Straße zu tragen wäre uns allen zuträglich. Um uns zu einer Gerechtigkeit zu erziehen, die der wahren Güte nahekommt. Güte ohne Gerechtigkeit wird früher oder später zu einer schwachen Emotion, die keine Veränderung hervorruft. Jene Veränderung die Padre Puglisi gesucht hat, bis zum Martyrium.“

Gian Carlo Caselli, ehemaliger Oberstaatsanwalt der Anti-Mafia Palermo